Zum zweihundertsten Geburtstag des Fahrrads am 12. Juni ist bei Klett-Cotta eine Kulturgeschichte des Rads erschienen. Autor ist der 1938 geborene Physiker und Technikhistoriker Hans-Erhard Lessing. Er ist seit Jahrzehnten eine anerkannte Größe unter den Fahrradhistorikern und hat viel zur Technikgeschichte publiziert. Lessing war es, der den inzwischen wieder bestrittenen Zusammenhang zwischen der der Klimakatastrophe 1816/17 und der Erfindung der Laufmaschine hergestellt hatte.
Lessing zeichnet die Entwicklung des Fahrrads ab der ersten öffentlichen Präsentation der Laufmaschine von Drais bis zur Erfindung des Niederrades um 1880 mit großer Akribie nach. Allerdings ist es mir nicht ganz leicht gefallen, mir die einzelnen Entwicklungsstadien des Fahrrads bildhaft vorzustellen. Selten habe ich ein Buch deshalb so sehr am Rechner gelesen wie den Band von Lessing. Wie sieht das Kurbelveloziped von Pierre Michaux aus? Wie muss man sich das Drahtspeichenrad von James Starley vorstellen? Wieso hat der kettengetriebenen Vorderradantrieb von Hillman zwei Ketten? Die Antwort auf alle diese Fragen bietet die Bildersuche von Google. Lessing gibt genügend gute Stichwörter, damit das jeweilige Modell mit zwei, drei Stichworten schnell gefunden werden kann.
Als das Fahrrad mit zwei etwa gleich großen, drahtgespeichten Laufrädern, einem mittigen Sitz und einem Antrieb über eine Tretkurbel, die mit einer Kette mit dem Hinterrad verbunden ist, in den 1890er Jahren endlich erfunden ist, wartete die Welt noch auf die Erfindung des Diamantrahmens, des luftgefederten Gummireifens und des Kettengetriebes. Als auch das ersonnen war und sich rasend schnell verbreitete, war die Entwicklung der grundlegenden Prinzipien des Fahrrads abgeschlossen. Und damit schließt auch Lessing seine Kulturgeschichte des Fahrrads. Hans-Heinrich Pardey wirft das dem Autor in der FAZ vor: „Da, wo die Geschichte des Fahrrads nach einer ersten Blüte um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wiederum zu einer Erfolgsgeschichte wurde und wird, hört das Buch ziemlich unvermittelt auf.“
Kann man so sehen, aber auch der Standpunkt von Lessing ist durchaus vertretbar. Jeder Gang über eine Fahrradmesse 2017 lehrt, dass nichts neues erfunden wird sondern das alte immer nur geschickt variiert wird. Deshalb ist es verständlich, dass Lessing den Schwerpunkt auf die wesentlichen Innovationen des Fahrrads legt, und die wurden nun mal im ersten Jahrhundert gefunden und im zweiten Jahrhundert ausdifferenziert und perfektioniert.
Ich habe das Buch von Hans-Ehrhard Lessing gern und mit großem Gewinn gelesen. Einziger Wermutstropfen ist die uninspirierte, zufällig wirkende Bildauswahl. Da wäre mehr drin gewesen.
Der Verlag hat mir ein Exemplar der Kulturgeschichte kostenlos zugeschickt, das ich weitergeben möchte. Wer bis 12. Juni diesen Beitrag kommentiert, hat die Chance, es zu gewinnen.
Hans-Erhard Lessing: Das Fahrrad: Eine Kulturgeschichte
Klett-Cotta
Stuttgart 2017
255 Seiten, gebunden, Leinenband, mit zahlreichen Abbildungen
ISBN: 978-3-608-91342-2
20,- €