Nicht mehr genutzte Bahnstrecken zu entwidmen ist immer eine zweischneidige Angelegenheit. Einerseits gewinnt man in einer weitgehend zugebauten Stadt dringend benötigte Erweiterungsflächen für Wohnen, Gewerbe, Freizeit oder Verkehr, andererseits beraubt man sich damit der Möglichkeit, später einmal den nicht genutzten Bahnabschnitt zu reaktivieren. Das Innovationszentrum für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel (InnoZ) hat am Beispiel der Potsdamer Stammbahn einen Weg gefunden, das eine zu tun, ohne das andere zu lassen.
Die Berlin-Potsdamer Eisenbahn, auch Potsdamer Stammbahn genannt, ist die erste Eisenbahnstrecke Preußens und wurde 1838 eröffnet. Sie führt vom ehemaligen Potsdamer Bahnhof nahe des Potsdamer Platzes über Schöneberg, Steglitz und Babelsberg nach Potsdam. Seit 1945 verkehrt hier kein Personenverkehr mehr, ab 1980 gibt es auch keinen Güterverkehr mehr. Nur jenseits von Lichterfelde-West finden noch einzelne Güterverkehre statt. Kurzfristig gab es auf der Strecke wieder Betrieb, als der Potsdamer Platz gebaut wurde, aber als die Ladestraße für die Baulogistik 2001 abgebaut wurde, fiel die Strecke erneut in den Tiefschlaf. Der Architekt und Stadtplaner Tim Lehmann vom InnoZ schlägt vor, die Potsdamer Stammbahn für einen Fahrrad- und Fußweg zwischenzunutzen. Das Gelände bleibt im Eigentum der Bahn und wird lediglich über einen Gestattungsvertrag der Stadt überlassen. Damit bleibt die Chance erhalten, die Bahnstrecke in zwanzig oder dreißig Jahren wiederherzustellen.
In der Zwischenzeit könnte die Stammbahntrasse zu einer attraktiven Fahrradschnellverbindung zwischen der Innenstadt und dem Südwesten Berlins werden, ebenerdig, ampel- und kreuzungsfrei. Ein Besuch des Botanischen Gartens in Lichterfelde würde vom Potsdamer Platz aus zu einem Katzensprung: zehn Kilometer fast ohne Querverkehr sind in einer halben Stunde im Genussmodus zu erreichen. Der Multifunktionsweg für Radfahrer und Fußgänger würde am Potsdamer Platz beginnen, durch den Park am Gleisdreieck und den „Wannseebahngraben“, einen Einschnitt in Schöneberg, führen und den S-Bahnhof Schöneberg erreichen. Danach würde die Fahrradstraße einen ganz besonderen Charakter bekommen, denn sie führt fast drei Kilometer zwischen Auto- und S-Bahn bis nach Steglitz: links die Autobahn, rechts die S-Bahn, dazwischen ein schnurgerader Fahrradweg. Die restlichen zwei Kilometer geht der Weg durch das grüne Lichterfelde entlang der S-Bahn.
Da die Fahrradstraße auf Bahngelände verläuft, müssten Rampen als Zubringer gebaut werden. Diese Zubringer könnten teilweise nur in größerem Abstand zueinander erstellt werden, sodass es fraglich ist, ob die Strecke für Fußgänger anziehend ist. Für Radfahrer allerdings wäre die Verwandlung der ehemaligen Bankiers-Bahn in einen Fahrradschnellweg schlichtweg ideal.
Eine erste Grobkostenschätzung ergab, dass das Projekt günstig zu realisieren ist, da keine Grunderwerbskosten anfallen. Die erforderlichen Flächen sollen langfristig von der Bahn gepachtet werden. Der Tagesspiegel sprach von Kosten in Höhe von rund 4,5 Millionen Euro. Zustimmung hat bereits die SPD im Bezirk Tempelhof signalisiert. Nun müsste das Projekt auch auf Senatsebene Befürworter finden, damit aus einer Projektidee die Fahrradinfrastruktur von morgen werden kann.
InnoZ: Radinfrastruktur – Investition in die Zukunft der Mobilität
Berliner Zeitung: Berlin bekommt einen Fahrrad-Highway
Tagesspiegel: Stammbahn-Trasse soll Fahrrad-Autobahn werden
Update 24.9.2015:
Gestern bekam die Idee eines Radschnellwegs von Steglitz zum Potsdamer Platz Fürsprecher von unerwarteter Seite. Justizsenator Heilmann und der Bundestagsabgeordnete Karl-Georg Wellmann – beide im Kreisvorstand der CDU Steglitz-Zehlendorf – unterstützen das Projekt und fordern, dass es als Pilotprojekt für weitere Radschnellwege in Berlin bis zum Jahr 2020 realisiert wird. Nach den Vorstellungen der CDU-Politiker soll die Route ergänzt werden durch Servicestationen mit Toiletten, Umkleiden und Duschen, durch Ladesäulen für Elektrofahrräder, durch Fahrradverleihstationen und Cafés.
Grafik: Radschnellweg auf den Yorkbrücken
Finanziert werden soll die Infrastruktur des Projektes durch einen Außenwerber wie Stroer, Wall oder JCDecaux, der im Gegenzug das Recht bekäme, Werbetafeln an der Strecke aufzustellen. Der Winterdienst solle aus den Mieteinnahmen der Gewerbetreibenden an der Strecke finanziert werden.
Tagesspiegel: So könnte Berlins erste Fahrrad-Schnellstraße aussehen
Berliner Zeitung: So könnte der Fahrrad-Highway in Berlin aussehen
Berliner Morgenpost: Auf dem Fahrrad-Schnellweg in die City