Am Sonnabend, dem 1. Oktober 2016 wollen die beiden Wohngemeinschaftsmitglieder V. und J., beide männlich und Anfang dreißig, einen Einkauf bei IKEA machen. Sie fahren etwa um elf Uhr von ihrer WG in der Sonnenallee in Neukölln in Richtung des Möbel & Einrichtungshauses in Berlin-Tempelhof. Auf der Germaniastraße treffen sie, nebeneinander fahrend, auf den angeklagten Kfz-Meister S. Der Angeklagte, Besitzer eines Autohauses in Tempelhof, ist mit einem Mercedes S 500 4MATIC unterwegs, ein 450-PS-Fahrzeug mit V8-Motor und 4,6 Litern Hubraum. Es kommt zu einem Streit. S. behauptet, einer der beiden Radfahrer hätte auf die Windschutzscheibe des Autos gespuckt und den ausgestreckten Mittelfinger gezeigt. Die Radfahrer sagen, dass die Ursache des Streits ein zu enges Überholen des Angeklagten sei. Der Radfahrer V. merkt sich das Kennzeichen des schwarzen Mercedes.
Was in den nächsten Minuten folgt, darüber gibt es unterschiedliche Versionen. Der Angeklagte sagt, er habe nach dem Streit das Fahrzeug gewendet, sei an der Kreuzung Germaniastraße und Ringbahnstraße in die Ringbahnstraße eingebogen und mit Tempo 30 in Richtung seines Autohauses gefahren. In der Ringbahnstraße in Höhe der Hausnummer 31 habe er einen der beiden Radfahrer verletzt auf der Straße liegend gesehen. Er habe gestoppt und die Feuerwehr und die Polizei gerufen.
Die Version der beiden Radfahrer klingt ganz anders. Nach ihren Aussagen werden sie mehrfach vom Mercedes-Fahrer überholt und beschimpft. Dann habe der Angeklagte gerufen: „Ich rufe jetzt meine Söhne an und wir machen euch kalt!“ Es kommt nach Aussage der Radfahrer zu einer Verfolgungsjagd, in die Minuten später ein zweites Fahrzeug eingreift. Die Radfahrer beschließen, sich zu trennen und in unterschiedliche Richtung zu fahren, um die Verfolger abzuschütteln. Dem Radfahrer J. gelingt es, sich in einen Hauseingang zu retten. Radfahrer V., Geschädigter und Nebenkläger in dieser Strafsache, flüchtet mit seinem Omnium-Lastenrad in die Ringbahnstraße, macht dort einen Schulterblick und erkennt den schwarzen Mercedes etwa 25 Meter hinter sich. Er versucht, in eine Parklücke zu kommen, um auf dem Bürgersteig weiterzufahren. Bei einem letzten Schulterblick ist der schwarze Wagen nur noch wenige Meter hinter ihm. Dann schwindet seine Erinnerung. Im Krankenwagen auf dem Weg zur Intensivstation kommt er wieder zu Bewusstsein und kann sich an das Kennzeichen des schwarzen Mercedes erinnern. Im Krankenhaus wird bei V. ein offener Schäderbasisbruch und weitere Verletzungen diagnostiziert.
Im Krankenhaus bekommt V. Besuch von zwei Streifenpolizisten. Sie sagen, sie würden sich wieder melden. Das passiert aber nicht. Deshalb geht V., nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen worden ist, am 20. Oktober 2016 zur Polizei und macht dort eine Zeugenaussage. Am 29. Dezember 2016 geht V. auf Anraten seines Anwalts erneut zur Polizei und macht weitere Zeugenangaben.
Außer den beteiligten Radfahrern und dem Autofahrer werden insgesamt fünf Zeugen an drei Verhandlungstagen befragt. Zwei Vertriebene M. und A., die in einem Flüchtlingsheim in der Ringbahnstraße 32 wohnen, sind gerade auf dem Weg zur U-Bahn, als sie hundert Meter hinter sich ein Unfallgeräusch hören. Sie eilen zur Unfallstelle und als sie eine Minute später dort eintreffen, sehen sie den Radfahrer V. verletzt auf der Straße liegend sowie den Angeklagten S., der mit seinem Mobiltelefon Polizei und Feuerwehr anruft. Etwas später kommt ein weiteres Fahrzeug zur Unfallstelle. Nach Aussagen des Zeugen M. steigt ein Mann aus dem neu hinzugekommenen Fahrzeug aus und sagt zum Angeklagten S.: „Ich habe gesehen, dass du es gewesen bist“. Die Antwort von S. sei gewesen: „Ich war es nicht. Ich will nur helfen“.
Ein weiterer Zeuge K. hatte vor dem Unfall die Verfolgungsjagd in der Germaniastraße beobachtet. Er sieht, wie ein schwarzer Mercedes sich mit hoher Geschwindigkeit nähert und sich dann quer auf die Kreuzung Germaniastraße und Ringbahnstraße stellt. Weil ihm das komisch vorkommt, notiert er sich das Kennzeichen des schwarzen Mercedes. Stunden später geht er auf dem Weg zum Hertha-Spiel durch die Ringbahnstraße und sieht an der Unfallstelle Polizisten, die die Spuren des Unfalls dokumentieren. Er teilt den Beamten seine Beobachtungen und das Kennzeichen des Fahrzeugs mit.
Auch der Polizist, der zuerst an der Unfallstelle eintrifft, wird am dritten Verhandlungstag als Zeuge vernommen. Ihm kam die Lage des Fahrrads, das sich linksseitig vor einem geparkten Fahrzeug befand, merkwürdig vor. Das sei für einen Alleinunfall untypisch. Außerdem sei das zerstörte Fahrrad von V. untypisch gewesen für einen Alleinunfall. Wörtlich sagte er: „Das sind Mutmaßungen. Ich bin kein Gutachter, aber es muss schon eine große Wucht von hinten gekommen sein“. Auch der Polizist, der die Ermittlungen im Zusammenhang des Unfallgeschehens durchführte, wurde befragt. Er untersuchte auch den schwarzen Mercedes, der „frisch gewaschen und geputzt“ im Vorführraum des Autohauses stand und keinerlei Spuren eines Unfalls aufwies. Und weil am Auto keine Spuren zu sehen waren, entschied der Polizist, auf eine Untersuchung der Unfallspuren am Lastenrad zu verzichten.
Schließlich wurde auch ein Sachverständiger Dr. W. vom Richter gefragt. W. ließ sich den schwarzen Mercedes am 26.10.2017 vorführen und untersuchte auch das zerstörte Lastenrad des Radfahrers am 23.10.2017. W´s Resumee: „Diese Art von Beschädigungen am Fahrrad ist mit einem Alleinunfall nicht zu schaffen. Es deutet alles darauf hin, dass da jemand von hinten draufgefahren ist“. Für den Gutachter ergab sich ein stimmiges Bild. Damit war die Beweisaufnahme abgeschlossen.
Das Plädoyer der Staatsanwältin war superkurz und nach drei Sätzen beendet. Da nicht auszuschließen sei, dass das zweite Fahrzeug für die Verletzungen von V. verantwortlich sei, sei der Angeklagte freizusprechen. Zack. Fertig. Auch die Forderung des Verteidigers des Angeklagten war knapp: es gibt keine Beweis, also Freispruch. Der Anwalt des Geschädigten und Nebenklägers V. forderte eine Haftstrafe wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr und gefährlicher Körperverletzung. Der Richter sprach den Angeklagten frei. Außerdem bekommt S. eine Entschädigung, weil ihm nach dem Unfall einige Monate der Führerschein vorsorglich entzogen worden war. Zwar sei dem Zeugen ein großes Unrecht geschehen. Es könne jedoch nicht nachgewiesen werden, dass der Angeklagte S. dafür verantwortlich sei. „Was wir persönlich glauben, steht nicht zu Debatte. Es geht ausschließlich darum, was bewiesen werden kann“. Der Angeklagte S. wird die Nachricht vom Freispruch an seinem Urlaubsort erhalten. Er war zum dritten Verhandlungstag am vergangenen Donnerstag (19. Juli 2018) gar nicht mehr erschienen.