Die Helmdebatte ist seit einigen Wochen wieder aktiv. Das Thema ist und bleibt emotional und auch Nicht-Betroffene – also Menschen, die selten oder nie Radfahren, mischen mit. Menschen, die keinen Helm tragen, stehen zunehmend unter Rechtfertigungsdruck. Denn – ein kluger Kopf weiss sich zu schützen! Wer Risiken für Leib und Leben eingeht, kann doch nur einen an der Waffel haben. Oder?
Ist es dumm, Risiken einzugehen?
Nein, es ist sogar unvermeidbar. Jeden Tag treffen wir Entscheidungen, und bei nahezu jeder Entscheidung kann etwas schiefgehen. Wir essen und gehen das Risiko von Vergiftungen oder Infektionen ein. Wir gehen aus dem Haus und gehen das Risiko von Unfällen und Kriminalität ein. Wir treiben Sport und gehen das Risiko von Verletzungen ein. Oder wir treiben keinen Sport und riskieren aus Bewegungsmangel resultierende Folgekrankheiten. Bei unseren Freizeitbeschäftigungen könnte ebenso was passieren. Selbst unser Körper ist ein einziges Risikogebiet: Fieseste Krankheiten warten nur darauf, in Erscheinung zu treten – dem können wir nur begrenzt entgegenwirken. Kurzum: Irgendwann passiert jedem von uns mal was Dummes, und einiges davon wäre sicher „vermeidbar“ gewesen, wenn wir an dem Tag zuhause geblieben oder in irgendeinem Detail eine andere Entscheidung getroffen hätten. Dummheit? Nein, normales Lebensrisiko.
Also munter drauf los ins Risiko?
Es gibt Risiken, die wir nicht eingehen. Der eine vermeidet es, nachts die U-Bahn zu nutzen aus Angst vor Übergriffen. Der nächste geht – um die Risiken schlechter Ernährung zu vermeiden – nur in den Biomarkt. Manche lassen sich jährlich gesundheitlich durchchecken. Beim Autofahren schnallen wir uns an, trotz grüner Ampel beobachten wir die Wartepflichtigen …
Warum gehen wir also einige Risiken ein, andere hingegen nicht? Das hat zwei Gründe: einerseits bewerten wir Risiken, andererseis wägen wir Vor- und Nachteile ab und gehen Risiken ein, wenn die Vorteile scheinbar überwiegen.
Wie bewerten wir Risiken?
Die meisten Risiken werden aus dem Bauch heraus bewertet. Aktuelle Ereignisse und Medienberichte können auf die Risikobewertung einen Einfluss haben. Kurioserweise gehen wir an mancher Stelle große Risiken ein, während wir an anderer Stelle lieber darauf verzichten. Das Dilemma kennt wohl jeder Radfahrer: Man weiss, wie riskant der Radweg ist, aber das Bauchgefühl drängt einen dennoch oft nicht auf die vielbefahrene Fahrbahn. Die Risikobewertung ist oftmals fehlerhaft: Nach dem 11. September 2001 vermieden viele Amerikaner die Nutzung des Flugzeugs. In den ersten zwölf Monaten nach den Anschlägen starben in den USA etwa 1.600 Menschen mehr auf der Straße, als dies zu erwarten war.
Fehlerhafte Risikobewertung ist natürlich und menschlich, Grundlage für Gesetze muss hingegen eine realistische Risikobewertung sein.
Wie kann man Risiken objektiv bewerten?
Risikobewertung ist häufig gar nicht so einfach. Nicht jede Entscheidung hat eine klare Auswirkung – ein Gehirntumor könnte z.B. vom Handy ausgelöst sein oder eben nur eine natürliche Krankheit sein. In vielen Fällen ist der Vergleich zweier Risiken hilfreich: Da wir uns z.B. den Verkehrsrisiken aussetzen müssen, können wir – wenn Risikovermeidung hohe Priorität hat – das sicherste Verkehrsmittel wählen und versuchen, häufige Unfallursachen zu vermeiden. Im Verkehrsbereich ist Risikoverringerung aufgrund der guten Datenlage relativ einfach.
Also nochmal kurz und knapp: Wo wir Risiken nicht vermeiden können, haben wir die Möglichkeit, die Risiken zu vergleichen und das geringste einzugehen.
Ein Risiko können wir also bewerten, indem wir es mit anderen vergleichen. Im Verkehrssektor haben wir das recht objektive Maß „Verletzte pro Milliarden Personenkilometer“ bzw. „Tote pro Milliarden Personenkilometer“. In anderen Sektoren kann es ausreichen, überschlagsmäßig zu rechnen und die Vorfälle in Relation zu den beteiligten Personen zu setzen, also z.B. die jährlich 30.000 Grippetoten zu den 80 Millionen Einwohnern Deutschlands oder die 400 Badeunfälle mit xxx Leuten, die schwimmen gehen (hier kann man dann wirklich nur noch gröbstens schätzen).
Welche Fragen müsste man also stellen, um eine Helmpflicht objektiv zu begründen?
Es gibt Tote beim Radfahren, und es gibt Kopfverletzungen bei Fahrradunfällen. Das ist unbestritten, kann aber allein noch keine Grundlage für eine gesetzliche Regelung sein. Diese kann – zumindest bei rationaler Entscheidungsfindung – nur begründet werden mit:
1.) einem Kopfverletzungsrisiko für Radfahrer, das das normale Maß überschreitet (Risikovergleich!) und
2.) einer messbaren Senkung des Risikos.
Radfahren ist nicht gefährlich!
Beim Radfahrern kann man sich schwer verletzen oder sterben. Das passiert jährlich mehreren Menschen, ist sehr tragisch und auch immer wieder Thema in diesem Blog. Dennoch stehen dem beeindruckende Zahlen gegenüber, die ich hier schon einmal zusammengetragen hatte: in Berlin gut 365 Millionen Fahrten und um die 14 Milliarden gefahrene Kilometer pro Jahr mit dem Rad. Im Jahre 2012 gab es 15 tote Radfahrer und 684 Schwerverletzte, natürlich jeder einer zu viel, ein Großteil davon nicht Unfallverursacher. Dennoch ist das Risiko für den Einzelnen so gering, dass er sich nicht zwingend darauf einstellen muss, da es vor anderen Lebensrisiken schlichtweg in den Hintergrund rückt.
Radfahren erhöht die Sicherheit!
Bezogen auf das eigene Lebensrisiko hat Radfahren, so wie eigentlich alle Arten von Sport, erhebliche Auswirkungen auf die Gesundheit und das Herz-Kreislauf-System. Bewegung gilt als relevante Vorsorge gegenüber Krankheiten, deren Auswirkungen vergleichbar mit denen eines schweren Unfalls sein können.
Die persönliche Risiken-Nutzen-Abwägung beim Radfahren zeigt stark in Richtung des hohen Nutzens. Wer sich gar nicht bewegt (und das tut ein relevanter Teil der Gesellschaft – woran durchaus auch das Mobilitätsverhalten einen relevanten Anteil hat), lebt riskanter als derjenige, der ohne Helm radfährt.