Das Radfahren wird immer beliebter – doch damit wächst auch die Sorge um die Gesundheit der Radfahrer. Immer wieder wird darüber diskutiert, wie man die Sicherheit der Radfahrer erhöhen kann. Doch in der öffentlichen Diskussion finden sich eher monotone Vorschläge, die gerne ausblenden, dass Radfahrer häufig Opfer von Verkehrsunfällen sind, die sie nicht selbst verursacht haben. Der Radfahrer, der sich an die Regeln hält und regelmäßig gefährdet wird, sieht sich in den entsprechenden Debatten nicht vertreten.
Einer der häufigsten Vorschläge zur Erhöhung der Sicherheit von Radfahrern ist die Einführung der Kennzeichenpflicht. Radfahrer würden ein Kennzeichen erhalten, über das sie – etwa nach Verkehrsverstößen oder Unfällen mit Fahrerflucht – identifiziert werden können. Zudem wäre – so die Befürworter – davon auszugehen, dass Radfahrer weniger Verkehrsverstöße begehen, so dass am Ende weniger Unfälle geschehen.
Auf die Auswirkung einer Kennzeichenpflicht auf die Unfallsituation möchte ich mich mit den nachfolgenden Gedanken konzentrieren. Immerhin haben wir in Deutschland langjährige Erfahrungen mit einer Kennzeichenpflicht (für Kraftfahrzeuge) gemacht, die in die Überlegungen einer solchen Maßnahme für Radfahrer einbezogen werden sollten. In einem ersten Schritt muss dafür die Anzahl der Verkehrsverstöße quantifizierbar gemacht werden – derer, die bereits ein Kennzeichen haben und derer, die eins verordnet bekommen sollen.
Anzahl der Verkehrsverstöße – Datenquelle Polizeikontrollen?
Doch wie misst man diese Anzahl? Die Polizei führt stichpunktartige Kontrollen durch, bei denen sie sich auf einzelne Verkehrsverstöße konzentriert. So wird jemand, der regelmäßig zu schnell fährt, recht bald in die „Falle“ tappen, während jemand, der keinen Sicherheitsabstand wahrt, in der Stadt wahrscheinlich keine Sanktionen zu erwarten hat. Mit der Anzahl ihrer Kontrollen kann die Polizei die gemessene Anzahl der Verstöße erhöhen. Mit dem Auslassen bestimmter Verstöße aus den Kontrollen kann sie die gemessene Anzahl verringern und gleichzeitig eine höhere Akzeptanz für das entsprechende Fehlverhalten erzeugen. Polizeikontrollen sind also ungeeignet, um Schlüsse auf die Verkehrsmoral zu ziehen.
Anzahl der Verkehrsverstöße – Datenquelle „Strichliste“?
Will man die Anzahl der Verkehrsverstöße objektiv messen, so könnte man sich beispielsweise an eine Kreuzung stellen, alle Fahrzeuge und Fußgänger beobachten und jedes Fehlverhalten notieren. Aber auch hier wird es schwierig, überhaupt jedes Fehlverhalten mitzubekommen. So wird man eine ignorierte rote Ampel eher notieren als einen nicht eingehaltenen Sicherheitsabstand oder eine Geschwindigkeitsübertretung. Noch schwieriger wird es bei den Verkehrsverstößen, bei denen der Gesetzgeber reichlich unkonkret von „gemäßigter Geschwindigkeit“ oder „ausreichendem Abstand“ spricht. Es wäre möglich, Verkehrsverstöße auf diese Weise zu messen – technisch aber aufwendig und wegen der Gummiparagraphen teilweise ungenau.
Anzahl der Verkehrsverstöße – nach Verkehrsart
Auch im direkten Vergleich der Verstöße von Rad- und Autofahrern wird man seine Probleme haben. Rotlichtverstöße von Radfahrern wird man als „schlimmer“ wahrnehmen als Abbiegeverstöße von Kraftfahrern, die aber in ebensolcher Regelmäßigkeit auftreten. Wer mit 70 km/h bei Grün auf die Kreuzung zufährt, wird im Falle eines Unfalls weniger moralische Mitschuld zugesprochen bekommen als jemand, der bei Rot über die Ampel fährt. Dabei hätte der „Raser“ seinen Bremsweg verringern können – eventuell so stark, dass es am Ende zu keinem Unfall kommt. Ebenso hätte der Rotlichtfahrer auf Grün warten können, und damit ebenso einen Unfall verhindert. Beide haben zum Unfall beigetragen, die moralische Schuld wird aber nur einem zugewiesen. Spätestens hier merkt man, dass Fehlverhalten in der öffentlichen Wahrnehmung gewichtet wird.
Gewichtung von Verkehrsverstößen
Eine Gewichtung von Verkehrsverstößen ist für die Gefahrenbetrachtung logisch. So wird es in einer ruhigen Nebenstraße wenig erheblich sein, ob ein Fußgänger die Fahrbahn „zügig auf dem kürzesten Weg quer zur Fahrtrichtung“ überschreitet – siehe §25 (3) STVO – oder regelwidrig langsam und im schrägen Winkel über die Fahrbahn geht. Hingegen wird es sehr wichtig sein, ob ein Fahrzeugführer die Geschwindigkeitsbeschränkungen einhält und die Vorfahrt beachtet. Einige Vergehen erzeugen sehr viele Unfälle, andere Vergehen sehr wenige.
Über Radfahrer liest man häufig, dass sie entweder „gar keine“ Regeln einhalten oder zumindest wesentlich seltener (als Autofahrer) dazu bereit seien. Häufigster Vorwurf: Nicht anhalten vor roten Ampeln. Das ist eine gewichtete Betrachtungsweise: Rote Ampeln schützen den Verkehrsteilnehmer davor, vom Querverkehr erfasst zu werden. Somit ist das Ignorieren roter Ampeln ein schwerer Verkehrsverstoß. Ein Gegenbeispiel wäre das Ignorieren eines „Anlieger frei“-Schildes. In solchen Straßen wird mit Straßenverkehr gerechnet, das verbotene Befahren schafft keine höheren Gefahren als das erlaubte Befahren.
Nicht vergessen darf man in der Betrachtung, dass es kontraproduktive Verkehrsregeln gibt, deren Einhaltung gefährlich ist. Wer auf der Fahrbahn – bestenfalls noch auf der Linksabbiegerspur – nach Radwegampel fährt, geht Risiken ein. Wer das Rechtsfahrgebot überinterpretiert, knallt früher oder später in eine sich öffnende Autotür. Und Radwege, oft benutzungspflichtig, wirken wie Unfallmagneten – die Berliner Hauptunfallkreuzungen für Radfahrer sind allesamt solche mit Radwegen. Wie bezieht man Verstöße gegen solche Selbstgefährdungsgebote in die Gefahrenbetrachtung ein?
Die Antwort ist sehr einfach: Es ist ausgeschlossen, alle Verkehrsverstöße zu ahnden oder auszumerzen. Daher muss man die Unfallstatistik mit einbeziehen und die wichtigsten Unfälle betrachten:
Verkehrsverstöße, die häufig zu Unfällen führen, sind schlimmer als solche, die selten zu Unfällen führen.
Und hier wird es interessant. Berlin leistet sich ca. 130.000 Verkehrsunfälle pro Jahr, davon ca. 7.300 (also 5%) mit Radfahrern. Bei einem Modal Split von ca. 33% (Kfz) zu 12% (Radfahrer) ist das durchaus bemerkenswert. Das Kfz wird 2,75 mal so häufig genutzt wie das Fahrrad. Dabei ist es in 17 mal so viele Unfälle verwickelt, großteils mit anderen Kraftfahrzeugen. Schon diese Zahlen lassen erwarten, dass eine Kennzeichenpflicht keinen großen Einfluss auf das Unfallgeschehen haben wird.
Wenn man die durchschnittlichen Streckenlängen mit einbezieht – siehe „Kenndaten zur Mobilität“ (Berliner Stadtentwicklung) – gleichen sich die Werte etwas an. Die durchschnittliche Fahrradfahrt in Berlin wird mit 3,6 km angegeben, die durchschnittliche Autofahrt mit 9,5 km (Daten von 2008). Dementsprechend werden mit dem Kfz in der Summe gut sieben Mal so weite Strecken zurückgelegt wie mit dem Fahrrad. Doch es bleibt bei 17 Mal so vielen Unfällen – trotz Kennzeichen.
Bezieht man die Verursacherquote ein – die die Polizei exklusiv für Radfahrer und Fußgänger, nicht aber für Kfz-Fahrer berechnet – wird die Auswirkung noch dramatischer. So waren im Jahre 2011 in 3.352 Fällen Radfahrer die Hauptverursacher, in 707 Fällen immerhin Mitverursacher. Jedes Wirken in eine Richtung, die Fahrfehler von Radfahrern auf „Null“ reduziert, würde die Berliner Statistik also um etwa 3.300 Unfälle erleichtern. Den regelkonform fahrenden Radfahrern wäre damit kaum geholfen, weiterhin würden 4.000 pro Jahr in Berlin verunglücken.
Wenngleich die Strafverfolgung in einzelnen Fällen erleichtert sein könnte – immerhin 632 Radfahrer flüchteten 2011 nach Unfällen – wird man bei der Unfallvermeidung auf andere Maßnahmen zurückgreifen müssen. Die drastisch höheren Unfallquoten von (kennzeichenpflichtigen) Kraftfahrzeugen lassen erahnen, dass Nummernschilder keinen Einfluss auf das Unfallgeschehen haben.
Die Tatsache, dass Radfahrer unterdurchschnittlich an Unfällen beteiligt sind und keine überdurchschnittliche Unfallverursacherquote (ca. 50%) aufweisen, unterscheidet sie deutlich von Kraftfahrern, die stark überdurchschnittlich am Unfallgeschehen beteiligt sind und zu den Hauptverursachern zählen. Unfallverursachende Unterschiede sind also weniger in der Kennzeichenpflicht zu sehen, sondern wohl vielmehr in den erreichbaren Geschwindigkeiten und im hohen Sicherheitsstandard für Kfz-Insassen bei innerstädtischen Geschwindigkeiten.